Priorisieren mit dem Weighted Shortest Job First. Wie spannend das als Einleitung ist! Daher mal so: Nervt es nicht, wenn alles dringend, alles wichtig und alles zu viel ist? Und dann hilft es tatsächlich mit WSJF zu priorisieren.
Dieser Artikel ist der dritte Teil einer Trilogie. Im ersten Artikel habe ich das 1×1 des Priorisierens beleuchtet, im zweiten Artikel den WSJF.
Jetzt geht’s um die Anwendung. Und was liegt bei so einem Praxisbeispiel näher, als einen echten Workshop heranzuziehen? Und dann abzuleiten, was übertragbar ist? Nichts, oder?
Ein echtes Beispiel
Dann lass uns das mal machen. Erstmal etwas Hintergrund und natürlich muss ich hier ein paar Details verändern, weil es sonst total offensichtlich ist, mit welchem Kunden das Ganze stattgefunden hat. Es geht um ein Unternehmen, das was mit Software macht. So weit, so allgemein. Früher hat dieses Unternehmen das allerdings nicht getan, da war Software echt Neuland. Und so gibt es dort einen “Digitalbereich”.
Ja, richtig gelesen. Ein Bereich der Digitales macht. Fragt sich natürlich, was die anderen in dem Unternehmen so machen. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Da es also diesen Digitalbereich gibt, kannst Du Dir vorstellen, dass der mit dem gesamten übrigen Unternehmen zusammen arbeiten darf. Muss. Oder anders gesagt: Alle wollen was vom Digitalbereich.
Und genau das hat die Arbeit dort so schwer gemacht. Es gab so viele Themen, die “in Arbeit” waren, dass Listen über Listen erstellt wurden und in endlosen Meetings Abstimmungen gehalten wurden. Eine gemeinsame Priorisierung zu haben, war allen klar, würde viel Verschwendung (für alle, die Lean-affin sind: Muda) vermeiden. Da wurden wir mit unserer Idee, in zwei Tagen solch eine Abstimmung zu schaffen mit offenen Armen empfangen.
Über den Workshop
Damit hatten wir uns natürlich auch was eingebrockt und mussten entsprechend liefern. In die Vorbereitung des Workshops ist fast so viel Aufwand geflossen, wie in den Workshop selbst (grob geschätzt 80 Personentage Aufwand für die Vorbereitung und 95 für Durchführung und Nachbereitung).
Beteiligt waren etwa 45 Personen, darunter 20 Product Owner, 15 Stakeholder aus den “Nicht-Digital-Bereichen”, fünf Vice President, eine Senior Vice President und glücklicherweise drei Personen, mit denen ich den Workshop vorbereitet habe und die mich durch die zwei Tage hinweg toll unterstützt haben – das war eine echte Zusammenarbeit über Firmengrenzen hinweg! Der Workshop hat noch vor Covid-19 stattgefunden, also alle in einem Raum, unglaublich oder?
Die Agenda des Workshops
Day 1 | 09.30: Doors open 09.45: latest arrival time 10.00: Opening (by the facilitator) 10.15: The WHY of the workshop 10.30: Strategic outline for the business unit 11.00: The HOW of the workshop 11.20: Groups’ and space setup 11.40: First estimation round – sort items into categories 12.30: lunch break of 60’, followed by 30’ of individual work time 14.00: “Bet on the horses” 14.15: Q&A on the portfolio 15.00: Second estimation round – estimate the top 5% Epics 15.30: Coffee break with time for chats and Mario Kart 16.00: Third estimation round – estimate the top 5% Epics 17.00: (En)lightnings 17.30: Adjourning 17.45: Free time/Operational Review with SVP, VPs, deputies, and reps 19:30: Dinner at “a nice place” |
Day 2 | 09.30: Doors open 09.45: latest arrival time 10.00: Opening (by the facilitator) 10.15: Presentation of the current standings 11.00: Fourth estimation round – estimate the next 10% 12.00: lunch break of 60’ initiated by 30’ of individual work time 14.00: Energizer – get in touch with the latest product 14.15: Fifth estimation round – estimate the next 10% 15.00: Prepare for the presentation of the top 5% Epics 15.30: Coffee break with time for chats and Mario Kart 16.00: Presentation of the top 5% Epics 17.00: Flag risks, dependencies, and follow-ups 17.30: Closing 18.00: Debriefing with SVP, VPs, deputies, and reps |
Aus dem Nähkästchen eines Moderators
Bevor ich auf das WSJF eingehe, möchte ich ein paar Tipps für solche Workshops mitgeben – übrigens freue ich mich auch über weitere Ratschläge.
- Plane stets Puffer ein. Alles dauert länger, braucht Wechselzeiten. Daher auch dieser Beginn mit “Doors Open”.
- Gib’ den Leuten Zeit, Ihrem Tagesgeschäft nachzugehen. Das hält nicht einfach für zwei Tage an. Und damit die Leute konzentrierter sind, ist es gut, wenn sie die Zeiten kennen, zu denen sie telefonieren, schreiben, etc. können.
- Plane grosszügige Pausen. Manchmal passiert gerade dann Wichtiges, wenn lockere Gespräche geführt werden. Pausenzeit ist wertvolle Zeit!
- Halte einen programmatischen Defibrillator bereit. Der frühe Nachmittag ist bei vielen Menschen der circadiasche Tiefpunkt, der Tiefpunkt des Tages. Erst recht nach einem reichhaltigen Mittagessen. Frische Luft und etwas Animierendes hilft. Bei diesem Workshop gab es am ersten Tag meinen Favoriten “Bet on the Horses”: Ein grosser Bildschirm, Mario Kart und einige Joysticks dazu. Fertig war der Spass und es konnten Wetten angenommen werden. Das bringt die Leute zusammen.
- Plane eine Session mit allen Teilnehmenden, um zu überprüfen, ob die Agenda noch passend ist oder ob etwas Wichtiges beachtet werden sollte – hier der Punkt “(En)lightings” am Nachmittag des ersten Tages.
- Führe stets ein Debriefing durch, um schnell Rückmeldungen zu bekommen und anpassen zu können – hier am Ende des ersten und zweiten Tages.
WSJF – how-not-to
Best Cases gibt es nicht aber ein paar Dinge, die sicher zum Scheitern führen:
- Keine abgegrenzten Items (hier: Epics) haben.
Stattdessen: In den Workshop ist Vorbereitung von vielen Personen geflossen. Auch die Product Owners hatten sich vorbereitet und die Epics anhand eines Templates (an dieses Benefit Hypothesis Statement angelehnt) formuliert. - WSJF im zu kleinen Kreise ermitteln.
Stattdessen: Möglichst viel spezifische Expertise dazu holen. In diesem Workshop waren die Stakeholders für Business Value, Time Criticality und Opportunity Enablement/Risk Reduction wichtig. Bei zu wenig Personen fehlt Expertise und die drängt sich wie ein Bumerang später auf und bringt wieder Unklarheit rein. - WSJF im zu grossen Kreise ermitteln.
Stattdessen: In der Vorbereitung, hier mit den POs die notwendigen Stakeholders identifizieren. Meiner Meinung nach, hätten die VPs nicht dabei sein müssen. Zu viele Personen erschweren Entscheidungen. - Alles schätzen
Stattdessen: Nur ausgewählte Items schätzen. Hier wurden 180 eingebracht und selbst die Top 5% waren also knapp 10 Epics. Lieber die wichtigsten genauer bearbeiten, als alle ein bisschen. Das ist Arbeit “auf Halde” und verwässert die Bewertungsqualität der zeitlich nächsten Aktivitäten.
Fokus, Fokus, Fokus – Runde Eins
Allein das (natürlich vorab abgestimmte) Ankündigen, dass zunächst nur die top 15% der Epics geschätzt werden sollen, hat für Aufruhr gesorgt. Umso wichtiger war es ein Vorgehen zu entwickeln, das die Auswahl unterstützt.
Um zu Anfang die wichtigsten zu finden, haben wir folgenden Trick angewendet: Excel. Controller hassen diesen Trick.
Aber gerade die Möglichkeit mit allen Gruppen zeitgleich zu arbeiten, war der Schlüssel zum Erfolg. Zur allerersten Schätz-Session konnten sich Gruppen selbstorganisiert bilden, die Vorgaben war nur, dass jeder Tisch besetzt sein sollte, an jedem Tisch ein Platz frei bleiben sollte und in jeder Runde mindestens ein PO und ein Stakeholder sein müsse. Der Rest war selbstorganisiert, auch und gerade Wechsel an den Tischen. Dadurch, dass jeder möglichst viele Themen platzieren wollte, haben sich die Diskussionen selbst limitiert.
In wechselnden Konstellationen haben sich die Gruppen Epics gezogen und nach dem WSJF bewertet. Der WSJF (nach SAFe) setzt sich aus vier Variablen zusammen:
Für diese erste Runde haben wir eine ganz einfache Priorisierung ermöglicht (per Dropdown-Menü in Excel sehr schön vorkonfigurierbar): sehr hoch – hoch – niedrig – sehr niedrig.
Die Werte konnten an jedem Tisch, für jedes Epic ausgewählt werden. Also konnten mehrere Tische gleichzeitig das selbe Epic schätzen.
Die Daten wurden in dem zentralen Blatt nach dem arithmetischen Mittel aggregiert. Dazu einfach die oben genannte Skala in Werte von 1 bis 4 übersetzen. Die Job Size war im Vorfeld von POs und Devs geschätzt worden.
Der geschickte Zug daran: Die Epics, die von mehr Leuten als wichtig angesehen wurden, bekamen mehrere und höhere Bewertungen. Und natürlich gab es Epics, die gar nicht angefasst wurden. Auf die Weise entsteht der Fokus fast von allein.
Wer priorisiert was?
Nachdem in der ersten Session eine erste Kategorisierung vorgenommen wurde, konnten daraus die top 5%, also etwa die top 10 Epics abgeleitet werden. Diesen wurde deutlich mehr Zeit gewidmet. Wieder konnten die Tische sich nach Bedarf zusammen setzen. Diesmal war klar, an welchem Tisch welches Epic besprochen würde.
Runden Zwei und Drei
In den Runden Zwei und Drei wurde genauer geschätzt, also nicht in den vier Kategorien oben, sondern mit der vereinfachten Fibonacci-Folge (0-1-2-3-5-8-13-20-40-100). Als erstes haben wir damit begonnen, für das Epic mit dem geringsten “Business Value”, für das Epic mit der geringsten “Time Criticality” und für das Epic mit der/dem geringsten “Risk Reduction/Opportunity Enablement”. Die Abstimmung geht auch über das oben genannte Excel-Dokument und auch hier haben wir die Leute um Stimmabgabe gebeten, die aussagefähig waren. Dabei war auch gut zu erkennen gewesen, dass die meisten Stimmen bei der Time Criticality abgegeben wurden – dazu hatte jede:r eine Meinung 😉
Der jeweils kleinste Spaltenwert ist die Referenz für die anderen: “Wenn das eine Eins bei Business Value hat, dann hat das hier eine Drei”. Dieses Schätzen in Relationen kommt dem menschlichen Denken entgegen.
Nach und nach haben sich die Schätzungen für die top 5% aufgefüllt, manchmal schneller, manchmal langsamer. Interessant war zu beobachten, wie die Leute “in Arbeitsstimmung” gekommen sind und mit hochgekrempeltem Hemdsärmeln und gebundenen Haaren emsig von Tisch zu Tisch sind. Kam mir vor, wie auf dem Börsenparkett, damals mit Telefon:
Runden Vier und Fünf
Wer aufmerksam die Agenda studiert hat, der:dem wird aufgefallen sein, dass am zweiten Tag die nächsten 10% nach dem WSJF geschätzt wurden.
Warum die nächsten 10%? Die Idee dahinter ist folgende: Bei einer Durchlaufzeit von über drei Monaten und einem WiP von etwa 10 Epics “reicht” eine Schätzung von 5% für mindestens drei Monate Arbeit.
Nach drei Monaten würden also die Epics, die heute zwischen den top 5% und top 10% sind, geschätzt. Weitere 5% sind nochmals drei Monate weiter in der Zukunft. Die Schätzung der top 15% reicht also mindestens neun Monate in die Zukunft und damit je zwei weitere solcher Workshops.
Falls dazwischen neue Epics auftauchen, können diese aufgenommen werden, denn der “Schätzvorrat” reicht stets aus. Gleichzeitig soll dieser Vorrat nicht zu groß sein, da sich schliesslich die Bedingungen für eine WSJF-Bewertung fortlaufend ändern.
Nicht zuletzt war es ein Signal, dass die ersten 5% so viel Aufmerksamkeit bekommen sollten, wie die nächsten 10%. Nebenbei haben wir auf diese Weise das Prinzips der rollierenden Planung vermittelt.
Noch ein paar Tricks und Tipps
Den restlichen Workshop kannst Du Dir jetzt hoffentlich vorstellen. Ein paar Punkte möchte ich nochmal hervorheben: Die beiden Sessions jeweils um 17.00 Uhr sind unglaublich wichtig. Es kann durchaus sein, dass der Workshop-Prozess Lücken hinterlässt. Und dann ist dieses kleine rote Lämpchen, das aufleuchtet, entscheidend. Da das aber auch ein Punkt ist, der gerne zu Diskussionen genutzt wird, stelle ich die einfache Regel auf, dass jede, die eine Meldung vorbringt, dafür anschliessend die Verantwortung trägt, dass der Punkt verfolgt wird. Müsste, sollte und könnte fallen so weitgehend weg.
Diese Personen kommen auch zur Operational Review, bei der bewertet wurde, ob der Prozess den gewünschten Outcome ermöglicht. Denen, die sich melden, das ist noch ein erwähnenswerter Kniff, wird dafür auch gedankt. Sie werden gefeiert und wir konnten sogar erreichen, dass sie einen Performance-Bonus bekommen.
Und virtuell?
Ja, das waren noch Zeiten. Alle Menschen, Bakterien und Viren in einen Raum. Und wer damals dachte “hier riecht es nicht mehr so frisch” denkt sich im Jahr 2022 “ich glaube, ich atme gerade einen anderen Menschen ein”.
Dann doch lieber virtuell. Kein Problem!
Diesen Workshop ins Virtuelle zu übertragen, ist leichter als gedacht. Was Du brauchst: Eine Videoplattform (ich finde die dreidimensionalen, räumlichen toll, welo o.ä.), eine Zusammenarbeitsunterlage (ich finde die interaktiven, z.B. Office 365 oder Miro toll. Dann erstellst Du solch eine excel-Datei, wie ich sie oben gezeigt habe, und richtest die Räume ein. Wichtig ist ein Plenarraum, in dem stets jemand von der Organisation ansprechbar ist und koordinieren kann.
Noch die Einladungen versenden. Und fertig.
Was für Tipps hast DU?
Welche Erfahrungen hast Du mit WSJF?
Was für Tipps hast Du für einen erfolgreichen WSJF-Workshop?
Unter allen, die sich hier an der Diskussion beteiligen, verlosen wir eine Session, in der wir mit Dir die Agenda für solch einen Workshop erarbeiten.