Wir erleben mit der Digitalisierung eine der großen Umwälzungen in Gesellschaft und Wirtschaft. Während die einen die großen Chancen sehen und zu ihrem Vorteil nutzen, schauen andere auf die Risiken, die im Wandel stecken. Lässt sich allgemein ausdrücken, wo Gefahren lauern und wo die Grenzen der Digitalisierung liegen?
Es bietet sich an, bei der Betrachtung vier Ebenen zu unterscheiden. Ausgehend von der individuellen Ebene und der Konsequenzen für den Einzelnen, können auf der zweiten Ebene die Folgen für die soziale Gruppe (Team, Familie) untersucht werden. Dann gibt es die Ebene der Organisationen und schließlich die der gesamten Gesellschaft.
Der einzelne Mensch, Bürger und Kunde sieht sich heute vielen digitalen Anforderungen ausgesetzt. Durch die immer stärker digitalisierten Abläufe großer Unternehmen sind Teile des Bestellvorgangs und der Auftragsabwicklung auf den Kunden übertragen worden. Wir bauen nicht nur unsere Möbel selber auf sondern buchen unsere Kinokarten und Bahntickets ganz selbstverständlich im Netz. Diese Möglichkeit ist verlockend, weil sie unabhängig von Öffnungszeiten und Orten das Einkaufen zulässt. Aber „schneller“ sind wir damit ja erst bei der x-ten Wiederholung dieses Vorgangs. Das Erlangen der sogenannten „Zeitersparnisse“ durch Digitalisierung frisst erst einmal unsere Zeit.
Hier stoßen wir auf eine erste Grenze der Digitalisierung. Sie kann nur so schnell voranschreiten, wie die Lerngeschwindigkeit des Einzelnen es zulässt. Denn jeder digitalisierte Ablauf, jedes neue digitale Produkt muss in der Handhabung erlernt werden. Und das geht nur so schnell wie Menschen eben sind.
In der Familie entsteht durch die Digitalisierung Gruppendruck. Der gemeinsame gepflegte Google-Kalender bringt nur etwas, wenn alle mitmachen. Mama will kein Smartphone? Muss sie aber, wenn sie sehen können will, wohin die große Tochter ihre Reittermine gelegt hat.
Die Flut an neuen Diensten zu Musik, Fernsehen und Spielen bringt zudem Verunsicherung mit sich: Für wen soll ich mich entscheiden? Gibt es diesen Dienst in einem Jahr noch? Was mache ich mit meiner alten Platten-/CD-Sammlung? Die Vielfalt überfordert Menschen und bindet deren Aufmerksamkeit und Zeit, um zu einer Entscheidung zu gelangen.
Und in der Nachbarschaft? Wie angenehm, ich kann mir die Bohrmaschine auf der Sharing-Plattform ausleihen und muss nicht beim Nachbarn klingeln. Dann muss ich mir nicht überlegen, was ich ihm als Gegenleistung bieten soll und er erspart sich die Peinlichkeit, danach zu fragen. Dafür lerne ich ja jemanden kennen, von dem ich mir die Maschine leihe. Ist das nicht das Gleiche?
Kritiker sagen, dass dabei eine mögliche Beziehung (zum Nachbarn) durch eine Zweckbeziehung (zum Sharing-Partner) und damit durch eine Dienstleistung ersetzt wurde. Während erstere die Basis für eine Gemeinschaft darstelle, sei letztere eine losere, folgenlos aufkündbare und damit nicht belastbare Verbindung. Setzen wir mit dieser Form der durch Digitalisierung ermöglichten Vernetzung unsere Gemeinschaft aufs Spiel?
In den Organisationen ist die Digitalisierung in zweierlei Weise spürbar: Es werden Produkt- und Prozessinnovationen gesucht, um auf elektronischem Weg physische Vorgänge (transportieren, puffern, verteilen, …) zu ersetzen oder erst so spät wie möglich im Ablauf entstehen zu lassen. Der Innovationsdruck erzwingt neue agile Zusammenarbeitsformen, die erst erlernt werden müssen, und die häufig nicht zu den nach der Logik des klassischen Managements aufgebauten Organisationen passen. Diese kulturellen Anpassungsleistungen kosten Energie. Gleichzeitig arbeiten die Menschen in Organisationen immer mehr in elektronisch unterstützter Manier zusammen und haben auch hier ständig neu zu lernen.
Bei einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft mit entsprechend älter werdenden Belegschaften in den Organisationen liegt hier vermutlich einen weitere Grenze der Digitalisierung: Die Lernfähigkeit von Organisationen, also ihre Fähigkeit, alte Muster abzulegen und neue anzunehmen, wird die Geschwindigkeit in der Durchsetzung von digitalisierten Arbeitsweisen bestimmen.
Und gesellschaftlich? Solange wir in der Veränderung drinstecken, können wir sie nicht richtig sehen. Welchen Effekt die Digitalisierung haben wird, werden zukünftige Generationen beurteilen. Was wir derzeit erkennen, ist, dass weder die erwarteten Produktivitätssteigerungen aus der Verbreitung der Computer in den volkswirtschaftlichen Zahlen nachweisbar sind, noch ist die Demokratisierung des Wissenszugangs durch das Internet wirklich umfassend weltweit erfolgt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander und keines der großen weltweiten Themen (Klima, Armut, Flüchtlinge, Wasser, Umweltverschmutzung,…) ist durch besseren Wissenszugang in spürbarer Weise besser im Griff der Weltgemeinschaft.
In jeder Chance steckt ein Risiko. Das ist auch bei der Digitalisierung so. Während der eine sich freut, dass er Produzent sein kann, ohne Produktionsmittel besitzen zu müssen, bedeutet das für den Anderen, dass ihn die Investition in Produktionsmittel auch nicht mehr davor schützt, von Wettbewerbern angegangen zu werden.
Umbrüche hat es schon immer gegeben. Das war so bei Gutenbergs Buchdruck mit beweglichen Lettern oder der Erfindung des mechanischen Webstuhls. Insofern ist die Digitalisierung keine Singularität.
Geht die Veränderung diesmal schneller? Meines Erachtens: Nein. Zwar bewegen sich die elektronischen Nachrichtenpakete schnell, aber die Veränderung in der Gesellschaft/Wirtschaft geht genauso schnell wie sie immer in menschlichen Gesellschaften geht. Es gibt Innovatoren, die vorangehen und Dinge ausprobieren. Manchen gelingt es, viele scheitern. Je nach Gusto kann man die Geschwindigkeit der Veränderung beklagen, die von den Innovatoren ausgeht oder sich über die Gescheiterten lustig machen. Beide braucht es, denn sie sichern den Weg ab, den die frühen Folger gehen können. Diese Neugierigen orientieren sich an dem, was bei den Innovatoren geklappt hat und machen es nach, passen es geringfügig an, adaptieren es für ihre Branche, Region, Aufgabenstellung. Und dann erst greifen die Veränderungen wirklich durch. Die mit der Digitalisierung einhergehende Vernetzung beschleunigt den Wandel, weil er nun an vielen Stellen gleichzeitig und parallel passieren kann. Aber damit steigt die Komplexität enorm an und bremst.
Was wirklich fehlt, ist das Regulativ für die Auswüchse und Blüten, die das startende Internetzeitalter hervorbringt. Und das darf gern selbstorganisiert sein und muss nicht zentral aufgesetzt sein. Wer darf was mit welchen Daten? Wer überwacht Google? Wer weist die NSA in die Schranken? Wer schützt die Bürger vor dem Kontrollwahn ihrer eigenen Volksvertreter?
Fazit:
Regierungen und Wirtschaftskonzerne sind dazu selbst nicht in der Lage und die politische Willensbildung von der Basis aus über demokratische Wahlen ist offenbar ein langsamer Prozess. Es braucht Plattformen für gesellschaftlichen Diskurs über Privatsphäre und über Bürgerrechte. Vielleicht ist das 200 Jahre nach der französischen Revolution jetzt wieder dran.