Näher am Kunden! Schneller am Markt! Besser ausgerichtet! Weniger Verschwendung! Mehr Ergebnisse! Bessere Qualität! Motiviertere Mitarbeitende!
Mit der Organisation ganzer Unternehmen nach ihren Produkten oder ihren Geschäftsbereichen und dem neuen Aufleben von Value Streams tauchen neue Fragen auf. Denn bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass was so eingängig erscheint, gar nicht so einfach umzusetzen ist. Oder ist Dir schon mal die Wertschöpfung über den Weg gelaufen?
Ich möchte mit diesem Artikel ein paar Denkansätze geben, warum diese Überlegungen grundsätzlich passen und was berücksichtigt werden sollte. Keinesfalls vollständig und nur richtig, soweit es die Erfahrung bestätigt. Und natürlich kritisch zu hinterfragen, allein schon um an der einen oder anderen Stelle ein Augenzwinkern zu erkennen. Anschnallen und anschalten ist die Devise.
Warum ist das Organisieren nach “Value Streams” überhaupt ein Thema?
Achtung, es folgt ein großer Bogen. Bei der Bereitstellung erster industrieller Güter ging es in der Masse um die Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse. Sicherheit, Ernährung, Wärme. Bei aller Kritik an Maslows Modell1 es erklärt ganz hervorragend Aspekte der ökonomischen Entwicklung in Deutschland und wirtschaftlich ähnlich entwickelten Ländern über bald 200 Jahre. Die Grundbedürfnisse sind weltweit am ehesten vergleichbar, ob das höchste Ziel stets die Selbstverwirklichung ist, darüber kratzen sich allerlei Leute den Kopf. 2
Klar ist aber, dass die Differenzierung der Produkte steigt, wenn diese mehr als die Grundbedürfnisse ansprechen sollen. Die margenstarken Produkte sind nicht mehr die gleichen wie 1950. Sie haben sich weiterentwickelt. Und es ist genau diese Weiterentwicklung, die zunehmend wissensintensiver wird. Noch genauer: Das Wissen treibt die Wertschöpfung. Somit verschiebt sich das Verhältnis von Entwicklung und Produktion.
We trust in god, all others bring data.
Was das Motto der NASA ist, soll uns gut genug sein. Deswegen gibt’s erstmal Zahlen für die Argumentation, dass die Wertschöpfung wissensintensiver wird. Drei Diagramme sollen dies verdeutlichen. Das erste zeigt die Bruttoausgaben für Forschung und Entwicklung einiger ausgewählter Länder. Gut zu erkennen ist der steigende Trend bei allen Ländern und die ähnliche Entwicklung in Deutschland, der Schweiz und den USA. Interessant ist die Entwicklung in China, hier ist der Wandel der Wirtschaft gut erkennbar.
Das zweite Diagramm zeigt den Anteil der Menschen, die diese Forschung und Entwicklung treiben. Es steigen also nicht nur die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, sondern auch die Zahl der Menschen in diesen Feldern. In Deutschland ist es gar ein Plus von über 50% innerhalb von etwa 20 Jahren! Die müssen sich ja irgendwie zusammen arbeiten! Darauf kommen wir gleich zurück.
Das dritte Diagramm schliesslich zeigt die Entwicklung des sogenannten tertiären Sektors (Services) und des Bruttoinlandsproduktes (engl. GDP) pro Kopf. Zu sehen: Ein steigender Anteil von Dienstleistungen geht in der Regel mit steigenden GDP per capita einher. Es wird also nicht nur mehr Geld dafür ausgegeben und mehr Leuten arbeiten darin, es wirkt sich auch auf die (nationale) Wertschöpfung aus.* Die Schweiz gab es hier übrigens leider nicht zur Auswahl.
Die Ausrichtung nach Produkten wird also wichtiger, weil die Wertschöpfung wissensintensiver wird. Somit verschiebt sich das Verhältnis von Entwicklung und Produktion. Und weil also der Entwicklung in der Wertschöpfung ein größerer Teil zukommt, ergibt es vor diesem Hintergrund Sinn die Organisation an dieser Entwicklung auszurichten.
Was heißt wissensintensiver?
Egal, wo wir hinschauen, wir finden stets Beispiele in denen sich die Wertschöpfung in Unternehmen entwickelt, weil jemand Köpfchen rein gesteckt hat. Seltener ganz allein, meist eher in Gruppen.
Es ist kaum mehr möglich Beispiele zu finden, in denen Wertschöpfung ohne Köpfchen statt findet. Vielleicht für Gewichtheber. Obwohl, die haben ausgefuchste Trainingspläne. Der Begriff Köpfchen ist eher nicht in der Fachliteratur und wissenschaftlichen Publikationen auffindbar, aber Intelligenz geht immer. Die folgende Grafik zeigt, dass durch Intelligenz in der Unternehmung Prozesse (wie wird Leistung bereit gestellt) und Produkte (was wird bereit gestellt) weiterentwickelt werden. Mit dieser Grafik wird auch klar, dass die Produktion selbst wissensintensiver wird; Verbesserungen bauen auf dem heutigen Wissensstand auf und benötigen neue Impulse für die Weiterentwicklung.
Wenn also die Wertschöpfung wissensintensiver wird, dann sollte die Ausrichtung von Unternehmen auch entlang ihrer Wissensintensität erfolgen.
Bedeutet das also, dass die Organisation an den Produkten ausgerichtet werden sollte?
Die Grafik ist ein Hinweis darauf, dass die Organisation nach Produkten oder entlang ihrer Wertschöpfungskette zu kurz gedacht ist.
Ein Unternehmen, dass sich strikt nach seinen Produkten (oder Produktfamilien) aufstellt, verringert die Chance, die Prozessintelligenz zu nutzen. Vielerlei Produkte haben Gemeinsamkeiten von der Entwicklung bis hin zur Nutzung durch den Kunden. Eine Vollbank bietet Kontoservices, Depotmanagement und Kredite an und manches Mal ist der Kunde ein und dieselbe Person.
Ein Unternehmen, dass sich strikt nach seiner Produktion aufstellt, verringert die Chance, Produktintelligenz zu nutzen. Wenn die Expertise darauf fokussiert ist, vorhandene Produkte effizienter bereit zu stellen, sinkt die Chance auf abgefahrene Ideen und neue Produkte.
Eine Idee in diesen Kontext sind die ambidextren Organisationen, die können beides.** In technischem Kontext ist die Modularität von Autos spannend. Auf einer technischen Basis können einzelne Elemente hinzu gewählt werden, der Motorstrang, die Batteriegröße, die Karosserie und neuerdings auch Software in einzelnen Bausteinen.*** Hier geben sich gewissermassen die Produktionsintelligenz und die Produktintelligenz die Hand. Die einzelnen Bausteine können rekombiniert werden, zu einer Vielzahl von Individualkonfigurationen. Auf diese Weise ist die Losgröße 1, jedes Produkt ist einzigartig, mit der Wirtschaftlichkeit der großen Zahlen vereinbar. Übrigens auch ein Argument für das Entwickeln in Inkrementen.
In die Bücher schauen, bildet.
Das Organisieren entlang der Wertschöpfung erscheint also ein guter Ansatz. Nur ist die leider nicht so einfach erkennbar wie eine Fertigungsstraße. Zumal nicht in diesen wissensintensiven Zeiten.
Zum Glück gibt es historische Erfahrungen, die wir nutzen können. Plötzlich werden die alten Produktionsexperten wieder interessant. Denn was für die Wertschöpfung in der Produktion gilt (die Produktionsintelligenz), lässt sich grundsätzlich auf die Wertschöpfung in der Produktentwicklung übertragen (die Produktintelligenz). Also einfach mal den Lean-Experten rehabilitieren, die Value Stream Mapping Bücher entstauben und einen Workshop durchführen. Ganz so leicht ist es nicht und sicher eine der größten unternehmerischen Herausforderungen, die wir als Berater begleiten.
In die Bücher schauen ist noch aus einer zweiten Perspektive interessant. Die Deckungsbeitragsrechnung liefert Indikatoren für die Wertströme: Welche Leistungen sind unmittelbar nötig, welche Leistungen mittelbar relevant und welche werden generisch zugeschlagen? Der Geldstrom ist ein Hilfsmittel für das Identifizieren von Wertströme und wird spätestens dann wieder relevant, wenn eine nach Wertstrom ausgerichtete Organisation über Budgetierung spricht.
Der Fluch der Gegenwart und das Antidot
In allen Analysen liegt ein Fluch, sie zeichnen das Bild von gestern und bestenfalls heute. Weiterentwicklung macht neue Organisation notwendig. Der Fluch besteht in der Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft, wenn Unternehmen sich so aufstellen, wie ihre Wertschöpfung heute es nahe legt.
Die Organisation nach der Wertschöpfung von heute auszurichten kann den Weg für die Organisation von morgen verschließen. Dann ist der Value Stream von heute das Silo von morgen.
Die Welt von morgen ist nicht die Welt von morgen, die Produkte von heute bleiben nicht allzeit die Produkte von morgen. Innovationen sind -per definitionem- stets neu. Die Organisation nach der Wertschöpfung muss, damit es das Unternehmen morgen überhaupt noch gibt, Raum für Ideen lassen. Die Innovation muss entstehen können und zwar auch für große, bahnbrechende Erfindungen und nicht nur die nächste Evolution bestehender Lösungen.
Dazu muss die Organisation entlang der Wertschöpfung von heute Raum für Ideen und Initiativen lassen. Eric Ries hat mit Lean Startup eine Idee vorgestellt, wie Neues in großen Unternehmen voran gebracht werden kann:
Das Entscheidende ist, dass diese neuen Ideen in bestehenden Organisationen, beziehungsweise in den neuen Value Streams Raum, Zeit, Geld bekommen.
Das Produkt und die Wertschöpfung sind zweierlei
Allzu verführerisch ist die Idee, dass die Organisation nach Value Streams der Ausrichtung nach Produkten entspricht.
Auch das Scaled Agile Framework (SAFe) erweckt diesen Anschein. Und es wäre so leicht: Einfach alle bestehenden Unternehmensbereiche nehmen und auf die bestehenden Produkte verteilen. Aber wir wissen es mittlerweile besser: Wertschöpfung folgt nicht nur diesen Produkten, Wissen kann auch auf andere Art Wert beitragen. Die Matrix mit der Wissensintensität ist unsere Freundin.
Dazu kommt, dass die Aussenwahrnehmung von Produkten nicht der unternehmensinternen Bereitstellung entsprechen muss. Ein Beispiel liefert ein Kunde, den wir begleitet haben. Dieser Kunde entwickelt für eine Vielzahl großer Unternehmen Apps. Da fällt die Produktdefinition gar nicht so leicht. Ist jede einzelne App ein Produkt? Entspricht ein Kunde einem Value Stream? Sind Typen von Apps ein Indikator für die Value Streams? Oder sind Typen von Leistungen ein Indikator für die Value Streams?
Die Antwort ist von allem etwas. Das Bild zeigt, dass der Aussenblick und die Organisation zweierlei sind. Was der Kunde als Produkt wahrnimmt (rechts) entspricht nicht unbedingt der Wertschöpfung (links).
Zum Abschluss ein Zwischenfazit
Vor allem gilt es also Value Streams situativ zu identifizieren. Also unternehmens- und zeitspezifisch und dann mit dem Gedanken daran, dass morgen anders aussehen wird als heute. Und das das Unternehmen, in diesem Beispiel das App-Haus, diese Zukunft mit seiner Strategie selbst aktiv gestalten möchte.
Und jetzt?
Das war viel Text und an vielen Stellen habe ich Absätze bearbeitet, gekürzt und immer wieder gelöscht, weil sie vielleicht zu viel vertieft haben. Ich möchte Dich einladen, mitzudenken. Daher frage ich Dich: Und jetzt? Was möchtest Du ausgehend von diesem Artikel gerne vertieft und erklärt wissen?
Unter allen Beiträgen hier im Blog verlosen wir einmal das Buch Lean Startup von Eric Ries!
Referenzen
- Abulof, Uriel (2017-12-01). “Introduction: Why We Need Maslow in the Twenty-First Century”. Society. 54 (6): 508–509. doi:10.1007/s12115-017-0198-6. ISSN 0147-2011
- Tay, L.; Diener, E. (2011). “Needs and subjective well-being around the world”. Journal of Personality and Social Psychology. 101 (2): 354–365. doi:10.1037/a0023779. PMID 21688922
- https://en.wikipedia.org/wiki/Maslow%27s_hierarchy_of_needs
- OECD (2022), Gross domestic spending on R&D (indicator). doi: 10.1787/d8b068b4-en (Accessed on 19 February 2022)
https://data.oecd.org/rd/gross-domestic-spending-on-r-d.htm - https://ourworldindata.org/search?q=r%26d
- https://ourworldindata.org/grapher/gdp-vs-services-gdp?xScale=linear&minPopulationFilter=1000000&time=1801..2016&country=USA~DEU~CHN
- North, Klaus: Wissensorientierte Unternehmensführung. Wertschöpfung durch Wissen. 5. Auflage. Gabler: Wiesbaden 2011.
Entnommen aus https://www.enzyklopaedie-der-wirtschaftsinformatik.de/lexikon/daten-wissen/Wissensmanagement/Wissen/Wissensintensitat - https://en.wikipedia.org/wiki/Lean_startup
- https://www.scaledagileframework.com/operational-value-streams/
* Die USD-Werte sind auf das Jahr 2015 normiert (US-Dollar purchasing power parity 2015).
**https://hbr.org/2004/04/the-ambidextrous-organization
*** Teslas kurzfristiges over-the-air Freischalten der großen Batteriereichweite der vom Hurricane Irma in Florida bedrohten Tesla-Besitzer liefert eine plastische Anekdote dazu. (https://www.theverge.com/2017/9/10/16283330/tesla-hurricane-irma-update-florida-extend-range-model-s-x-60-60d)
That’s what our readers think
Ein gleichermaßen gelungener wie lesenswerter Artikel, Vincenzo!
Was mich interessieren würde, wie deine Überlegungen sich ändern oder angepasst werden müssen, wenn sie nicht auf klassische haptische Produkte, sondern auf Services oder Dienstleistungen als Produkte im weiteren Sinne bezogen werden – bin gespannt.
Viele Grüße,
Olaf