Oder: was passiert, wenn wir äußere Strukturen lösen?
Veränderungsinitiativen beschreiben häufig, wie äußere Strukturen und Prozesse sich verändern sollen. Das ist aber nur die „halbe Miete“: Für eine gelingende Transformation braucht es neben den äußeren Veränderungen Arbeit an den inneren Strukturen. Dieser Artikel erklärt, warum das so wichtig ist und wie wir den inneren Veränderungen mehr Raum geben können.
In meiner Rolle als Agile Coach beschäftige ich mich viel mit Organisationen, die sich auf eine Reise begeben: hin zu agilen Arbeitsweisen, flacheren Hierarchien, mehr gemeinsamer Führung und Selbstmanagement. Alte Strukturen werden gelockert, Prozesse neu gedacht. Entscheidungen da getroffen, wo sie gebraucht werden. Das alles mit dem Ziel, reaktionsfähiger zu werden und sich schneller an die sich ständig verändernde Umwelt anpassen zu können. Kurz: um eine resiliente Organisation zu werden.
Wir fangen also an, Strukturen zu hinterfragen, Prozesse neu zu denken, mehr Verantwortung an Teams und Individuen zu geben. Aber was macht das mit den Teams und mit den Individuen in der Organisation? Die Strukturen der Organisation haben sich oft über Jahrzehnte hinweg entwickelt. Womöglich wird der primärer Zweck der Organisation heute auf eine andere Art und Weise erfüllt. Aber die Strukturen hatten noch eine andere Funktion: Sie geben uns Menschen Sicherheit. Wenn Organisationen flachere Hierarchien und mehr Selbstmanagement anstreben, fallen die sichtbaren, „starren“ Strukturen oftmals weg. Und damit auch die Sicherheit, die sie vermitteln. Um das aufzufangen, bedarf es eines Kompetenzaufbaus, einer menschlichen Reifung, im Zuge derer Mitarbeitende stärker und selbstbewusster werden. Wenn wir äußere Strukturen lösen, sollten wir die Menschen in den Organisationen auch dabei unterstützen, innere Strukturen aufzubauen. Das Auflösen von äußeren Strukturen kann erst gelingen, wenn jede:r Einzelne mit sich selbst in gutem Kontakt ist, sich der eigenen Stärken und Schwächen bewusst ist und Bedürfnisse klar artikulieren kann.
Innere und äußere Stabilität
Aus psychologischen Studien wissen wir, dass das individuelle Gefühl von Sicherheit im Leben die Basis bildet, auf der wir Erfahrungen machen und anderen Menschen begegnen. Wenn wir uns innerlich instabil fühlen, brauchen wir mehr Stabilität im Außen. Dann sind Regeln und Strukturen eine große Hilfe, während Veränderungsbewegungen oder Konflikte Stress erzeugen. Wenn wir uns dagegen innerlich sicher und entspannt fühlen, können wir Herausforderungen und Stress bewältigen und auf Veränderung flexibel reagieren. Dann haben wir Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und die unserer Kolleg:innen, neue Wege werden denkbar und wir sind zuversichtlich, dass wir gemeinsam gute Ergebnisse erzielen werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir in Transformationen neben den äußeren strukturellen Veränderungen auch dem (inneren) Kompetenzaufbau der Menschen in den Organisationen Raum geben.
Um eine integrale Sichtweise hin zu ganzheitlichen Transformationen zu einzunehmen , nehme ich gerne das AQAL-Modell von Ken Wilber (All Quadrants, All Levels) zur Hand. Das Modell beschreibt vier Perspektiven entlang zweier Achsen: Innen vs. Außen und Individuum vs. Kollektiv. Die Grundannahme dabei ist, dass Transformationen nur dann wirkungsvoll sind, wenn wir alle vier Quadranten gleichermaßen einbeziehen. Sprich: Wenn wir etwas im Außen verändern, müssen sich innere Konstrukte (wie z.B. persönliches Bewusstsein oder die kollektiven Glaubenssätze) ebenfalls weiterentwickeln, damit die Veränderung nachhaltig wirkt. Und auch andersherum: Wenn wir uns innerlich weiterentwickeln, passen die äußeren Strukturen möglicherweise nicht mehr zu unseren Zielen oder unseren Bedürfnissen.
Viele Frameworks beschreiben, wie es gelingen kann, das Außen zu verändern. Um das Innere zu entwickeln, gibt es dagegen weniger Empfehlungen. Deswegen möchte ich im Folgenden ein paar Anregungen teilen, die mir helfen, mich in dem Spannungsfeld zwischen äußeren und inneren Veränderungen zu bewegen.
Inneres Wachstum
Zu Beginn stellt sich die Frage, inwieweit wir auf diejenigen Vorgänge einwirken können, die wir hinterher als „Kultur“ bezeichnen. Wir bei wibas sind überzeugt davon, dass die Veränderungen auf kultureller Ebene dann erfolgen, wenn wir wiederholt neue Verhaltensweisen erproben und damit positive Erfahrungen machen.
Die „Kultur“ als Summe aller Erfahrungen können wir nicht verändern. Jedenfalls können wir nicht direkt auf sie einwirken. Aber wir können den Prozess von Verhalten zu Erfahrung begleiten und unterstützen und somit indirekt auf die Entwicklung der inneren Strukturen einwirken.
Wir können beispielsweise durch den Aufbau von notwendigen Kompetenzen die Chance erhöhen, dass die Veränderungen positiv empfunden werden. Ein Product Owner, der lernen möchte, wie er sein Backlog besser organisiert; ein Team, das lernen möchte, seine Konfliktfähigkeit zu verbessern; eine Führungskraft, die Coaching-Skills erlernen will oder ein Teammitglied, welches besseres Selbstmanagement entwickeln möchte – all das gehört zum Aufbau von Kompetenzen im Quadranten links unten, zu den individuellen Fähigkeiten, die kollektiv wirken.
Darüber hinaus können wir den Reflexionsprozess unterstützen, welcher dem neuen Verhalten seine Bedeutung gibt. Sich diese Erfahrung bewusst zu machen, kann viel Energie erzeugen. Wenn die Verhaltensänderung keinen Erfahrungswert erzeugt, wird sie sich nicht etablieren.
Manchmal bemerke ich als Außenstehende etwas Positives, das von den Beteiligten nicht gesehen wird. Dann lenke ich die Aufmerksamkeit darauf, meistens mit einer Fragestellung zur Reflexion. Dazu nutze ich gerne Workshops und Retrospektiven. Modelle können helfen, Worte zu finden und auch komplexe Themen wie „innere Strukturen“ besprechbar zu machen. Mir hat das Buch „New Work needs Inner Work“ (Breidenbach & Rollow, 2019) oftmals weitergeholfen: Die Organisationsentwicklerin Bettina Rollow stellt darin viele praktische (Reflexions-)Fragen und hilfreiche Modelle vor.
Mir scheint, es geht hier – wie so oft bei Veränderungen – um das Bewusstsein. Bewusstsein darüber, dass es mehr gibt als die äußeren, sichtbaren Strukturen. Bewusstsein darüber, welche Kompetenzen wir haben und wo wir noch Energie reinstecken können, damit alle Quadranten – das Innere und das Äußere – miteinander in Einklang kommen. Die Auseinandersetzung damit wird auf vielen Ebenen belohnt. Unsere persönliche Resilienz wird gestärkt, wenn wir erkennen, welche Ressourcen wir mitbringen und welche wir gelernt haben, und dass wir uns auf diese Ressourcen in turbulenten Zeiten verlassen können. Und das wiederum stärkt auch die Resilienz unserer Organisation.
Quellen:
Breidenbach, Joana & Rollow, Bettina (2019): New Work needs Inner Work. Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation. Berlin: Das Dach Berlin UG.
Kaczmarek & Foegen (2016): Organisation in einer digitalen Zeit: wibas GmbH
Walsh, Roger, and Ken Wilber. Integral theory in action: Applied, theoretical, and constructive perspectives on the AQAL model. SUNY Press, 2010.
Über die Autorin:
Caroline Reinecke, Psychologin, Agiler Coach und Trainerin bei wibas. caroline.reinecke@wibas.com
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Hi Caro, sehr toller Artikel. Gefällt mir gut.
LG,
Caro
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